Mieterinnen und Mieter müssen mit hohen Nachzahlungen rechnen, darüber haben wir unsere Leser bereits in den Sozialen Medien informiert. Hintergrund ist, dass der Berliner Mietendeckel durch das Bundesverfassungsgericht gekippt und für nichtig erklärt wurde.
Der Verein Tacheles e.V. unter Führung von Harald Thomé berichtet in einer Pressemitteilung, wie betroffene Personen – insbesondere Bedürftige von Hartz IV und Sozialhilfe sowie Geringverdiener mit Unterstützung durch Kinderzuschlag und Wohngeld eine Nachzahlung (teilweise mehrere Tausend Euro) über das Jobcenter bzw. Sozialamt geltend machen können.
Pressemitteilung Tacheles e.V. vom 18.04.2021
Das BVerfG hat den Berliner Mietendeckel auf Initiative von 284 Abgeordneten von CDU/CSU und FDP im Rahmen einer Normenkontrollklage gekippt. Die Vermieter*innen freuen sich, die Parteien der klagenden Politiker*innen können mit hohen Spenden rechnen, auf rund 1,5 Millionen Mietende in Berlin kommen hohe Nachzahlungen zu.
Das BVerfG hat das Mietendeckelgesetz für nichtig erklärt, das bedeutet, dass die Berliner Mieterinnen und Mieter rückwirkend wieder ihre vertraglich vereinbarten Mieten zahlen, also nachzahlen müssen. Diese Rückzahlungspflicht entsteht mit Tag der Urteilsverkündung, also ab dem 15. April 2021, spätestens aber ab dem Tag, an dem Vermieter*innen die Zahlung gegenüber ihren Mieter*innen geltend machen. Millionen von Berliner*innen werden jetzt Nachforderungen bekommen.
Wenn diese Nachzahlung von zum Teil mehreren Tausend Euro nicht geleistet werden kann, besteht der Anspruch auf Übernahme durch das Jobcenter/Sozialamt. Das betrifft Geringverdienende und Leistungsbeziehende. Es betrifft aber auch Menschen, die Kinderzuschlag oder Wohngeld beziehen.
Wichtig ist aber: die Anträge von Personen, die bisher keine Leistungen bezogen haben und Sozialhilfebeziehende müssen im April 2021 bei Jobcenter/Sozialamt geltend gemacht werden, da die Rückzahlungspflicht wie oben genannte durch Urteil des BVerfG entstanden ist. Spätestens aber in dem Monat, in dem die vermietende Person oder Gesellschaft die Nachzahlung geltend macht. Wer die Übernahme später beantragt, hat keinen Übernahmeanspruch, allenfalls noch auf Darlehensbasis.
1. Rechtliche Wertung
Bei einer durch BVerfG – Urteil fälligen oder vom Vermieter geforderten einmaligen unterkunftsbezogene Aufwendungen handelt es sich um Unterkunftskosten im Sinne des § 22 SGB II/§ 35 SGB XII (vgl. zu Nebenkostennachforderungen BSG 30.3.2017 – B 14 AS 12/16 R, B 14 AS 13/16 R; 25.6.2015 – B 14 AS 40/14 R; 20.12.2011 – B 4 AS 9/11 R; 22.3.2010 – B 4 AS 62/09 R; zu Kanalanschlussgebühren BSG 24.2.2011 – B 14 AS 61/10 R; zur einmaligen Anschaffung von Heizmaterial BSG 8.5.2019 – B 14 AS 20/18 R). Diese sind sozialrechtlicher Bedarf im Monat der Fälligkeit und sind grundsätzlich in dem Monat vom Amt zu decken, in dem der Bedarf entsteht (zum Monatsprinzip als Strukturprinzip des SGB II vgl. BSG 8.5.2019 – B 14 AS 20/18 R; BSG 30.3.2017 – B 14 AS 18/16 R). Weiterhin ist erforderlich, dass im Monat der Fälligkeit die Unterkunft, für die diese Forderung entsteht, bewohnt ist.
2. Bezieher*innen von SGB II- und SGB XII-Leistungen, 4. Kapitel (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, NICHT Sozialhilfebeziehende)
Hier besteht keine Verpflichtung aus sozialrechtlicher Sicht im Monat der Fälligkeit einen Antrag zu stellen, da „tatsächliche“ Unterkunftskosten zu übernehmen sind. Das Entstehen des Nachzahlungsanspruchs bzw. die Geltendmachung der Forderung durch die vermietende Person oder Gesellschaft ist eine „Änderung zu Gunsten“ des Leistungsberechtigten, was auch rückwirkend vom jeweiligen Amt im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X übernommen werden muss.
Hinweis: dies bezieht sich aber nur auf Bezieher*innen von SGB II- und SGB XII-Leistungen nach dem 4. Kapitel (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung).
Bezieher*innen von Sozialhilfe nach dem 3. Kap. des SGB XII müssen den Antrag im Monat der Fälligkeit stellen!
3. Geringverdienende und Altersrentner*innen, die nicht im Nichtleistungsbezug stehen
Hier besteht grundsätzlich auch ein Übernahmeanspruch in Höhe der Kosten, die nicht durch eigenes Einkommen gedeckt werden können. Hier ist zentral, dass der Antrag auf Übernahme noch im Monat April 2021 gestellt wird. Die Nachzahlungen sind durch die Nichtigerklärung des Mietendeckels durch das BVerfG sofort fällig geworden. Unterkunftskosten im Sinne des SGB II/SGB XII sind es aber nur, wenn der Übernahmeantrag im Monat der Fälligkeit gestellt wird. Hier ist die Übernahmeregelung als Rechtsanspruch ausgestaltet und die Nachzahlungen sind auf Zuschussbasis zu übernehmen (§ 22 Abs. 1 SGB II, § 35 Abs. 1 SGB XII).
Bei Antragstellung nach dem Monat der Fälligkeit sind es sozialrechtlich Mietschulden, die Behörde „soll“ diese übernehmen und „kann“ auf Darlehens- oder Zuschussbasis gewähren (§ 36 Abs. 1 SGB XII). Das heißt es besteht dann kein Rechtsanspruch auf Übernahme mehr, ggf. dann auf Darlehensbasis.
Einzig positiv ist, dass die Corona-Sonderregeln zum Vermögenseinsatz gelten. Im SGB II gilt dadurch Vermögen für eine Person bis 60.000 EUR (§ 67 Abs. 3 SGB II) und im SGB XII bis 25.00 EUR (§ 66a SGB XII) als unschädlich.
Wichtig: hier muss der Antrag im April 2021, spätestens im Monat der Zahlungsaufforderung durch den Vermieter gestellt werden.
Allerdings reicht es, wenn der formlose Antrag auf Übernahme im April 2021 gestellt wird, Unterlagen können nachgereicht werden.
Achtung: in den Behörden gehen viele Unterlagen verloren, bitte Anträge beweissicher per Fax oder Mail stellen!
4. Bezieher*innen von Sozialhilfe (nach dem 3. Kap. des SGB XII)
Bei Sozialhilfebeziehenden besteht ein Übernahmeanspruch auf Zuschussbasis auf die Nachzahlung nur im Monat der Fälligkeit, wenn das Sozialamt von der Notlage Kenntnis hat (§ 18 Abs. 1, § 35 Abs. 1 SGB XII). Daher ist hier dringend geboten, noch im April 2021 den Übernahmeantrag zu stellen, spätestens aber in dem Monat, in dem der Vermieter zur Zahlung auffordert. Sonst alles wie unter Punkt 3.
5. BezieherInnen von Kinderzuschlag ohne Wohngeldbezug
Ist der Kinderzuschlag einmal bewilligt, schließt dieser den Bezug von aufstockenden Leistungen nach dem SGB II nicht mehr kategorisch aus. Voraussetzung für diese wenig beachtete Möglichkeit ist eine im Januar 2020 in Kraft getretene Gesetzesänderung. Bedingung für den Bezug von KiZ ist seitdem nicht mehr, wie zuvor, die Vermeidung der Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II, sondern dass i.d.R. zum Zeitpunkt der Feststellung des KiZ-Anspruchs „bei Bezug des Kinderzuschlags keine Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 9 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch besteht“ (§ 6a Abs. 1 Nr. 3 BKGG). Ist der KiZ jedoch erst einmal bewilligt, sind „Änderungen in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen während des laufenden Bewilligungszeitraums […] abweichend von § 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch nicht zu berücksichtigen, es sei denn, die Zusammensetzung der Bedarfsgemeinschaft oder der Höchstbetrag des Kinderzuschlags ändert sich“ (§ 6a Abs. 7 Satz 3 BKGG). Das bedeutet: selbst wenn eine Familie während des sechsmonatigen KiZ-Bewilligungszeitraums aufgrund geringerer Einkünfte oder gestiegener Bedarfe SGB-II-Leistungen beantragt und bewilligt bekommt, wird der einmal bewilligte Kinderzuschlag bis zum Ende des Bewilligungszeitraums weitergezahlt. Es ist demnach möglich, den KiZ mit SGB-II-Leistungen aufzustocken.
Das gilt auch für monatsweisen SGB-II-Bezug bei kurzeitig anfallenden Bedarfen, wie eine höhere, in einem Monat anfallende Nachforderung von Mieten aufgrund des Kippens des Mietendeckels.
Hier muss ein SGB II-Antrag beim Jobcenter gestellt werden.
6. Mietnachzahlungen im Wohngeldbezug
Grundsätzlich schließen sich Wohngeld und SGB II und SGB XII – Leistungen aus (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. WoGG). Laut Sinn und Zweck der Regelung sollen davon aber nur laufende Leistungen nach dem SGB II / SGB XII umfasst sein. Einmalige Zahlungen, wie Nachzahlungen die den Unterkunftskosten zuzuordnen sind, sind davon nicht erfasst und führen nicht zum Leistungsausschluss (I. a., Durchführungserlass BMI vom 04.08.2020 – Aktz. SW II 4- 72307/2#29). Erlass zum Download: BMI Erlass vom 4.8.2020
Das bedeutet, die Nachforderung der Vermieter*innen ist ein einmaliger Bedarf im Sinne des SGB II/SGB XII, der nicht zum Leistungsausschluss von Wohngeld führt.
Daher ist auch in diesen Fällen dringend noch der Antrag im April 2021, spätestens im Monat der Zahlungsaufforderung durch den Vermieter, zu stellen.
Allerdings reicht es, wenn der formlose Antrag auf Übernahme im April 2021 gestellt wird, Unterlagen können nachgereicht werden.
Achtung: in den Behörden gehen viele Unterlagen verloren, bitte beweissichere Anträge per Fax, oder Mail stellen!
Quelle: https://tacheles-sozialhilfe.de/startseite/aktuelles/d/n/2771/
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