Die Bürgergeld Vollsanktionen, die Ende März 2024 vom Bundesrat verabschiedet werden sollen, könnten eine Klagewelle auslösen. Mit dem zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetz 2024 soll sowohl der Bürgergeld Bonus in Höhe von 75 Euro gestrichen werden als auch – zunächst temporär für zwei Jahre – die Vollsanktionen bei wiederholter Ablehnung von zumutbarer Arbeit eingeführt werden – was bedeutet, dass der Regelbedarf vollständig für einen Zeitraum von zwei Monaten gestrichen wird. Die Vollsanktionen sollen sich ausdrücklich nicht auf die Mehrbedarfe sowie auf Kosten der Unterkunft und Heizung erstrecken.
Update vom 28.03.2024: Nachdem der Bundesrat die Gesetzesänderungen am 22.03.2024 gebilligt hat und diese am 27.03.2024 im Bundesgesetzblatt 2024 Teil 1 Nr. 107 veröffentlicht wurden, sind am 28.03.2024 die Vollsanktionen beim Bürgergeld in Kraft getreten.
In der Erklärung zum Haushaltsfinanzierungsgesetz 2024 bezieht sich die Bundesregierung bei der Neueinführung der Vollsanktionen auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1 BvL 7/16 vom 05.11.2019. Seinerzeit hatte das Bundesverfassungsgericht die Sanktionspraxis der Jobcenter scharf kritisiert und teilweise für nicht zulässig erklärt mit der Folge eines Sanktionsmoratoriums bei Hartz IV und anschließend deutlich eingeschränkter Leistungsminderung bei der Einführung des Bürgergeldes in 2023 – nun dreht sich die Spirale wieder rückwärts.
Welche Änderungen sollen eintreten?
Derzeit sind Sanktionen beim Bürgergeld bei wiederholten Pflichtverletzungen und Meldeversäumnissen auch höchstens 30 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs nach § 31a Abs. 4 SGB II begrenzt. Diese Begrenzung soll für wiederholte Pflichtverletzungen in Form von Weigerung der Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, Ausbildung oder gefördertem Arbeitsverhältnis soll aufgehoben werden. Hierzu wird der § 31a SGB II dahingehend ergänzt, dass bei wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres, der Regelbedarf vollständig entzogen wird und zwar für bis zu zwei Monate. Voraussetzung ist, dass die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme tatsächlich und unmittelbar besteht und diese vom Hilfebedürftigen willentlich verweigert wird.
Rechnerisch sind aktuell 30 Prozent Sanktionen für drei Monate möglich, bei einem Single wären das 168,90 Euro monatlich und bei drei Monaten in Summe 506,70 Euro. Mit der Einführung der Vollsanktionen können daraus zwei Monate voller Regelbedarf werden, in Summe entsprechend 1.126 Euro in 2024.
Hinweis: Die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme besteht nach den Regelungen des SGB II für Hilfebedürftige immer, da sie der Vermittlung praktisch permanent zur Verfügung stehen müssen. Ausnahmen gelten nur sehr eingeschränkt, bspw. bei Krankheit, Pflege oder Erziehung von Kindern. Zudem reicht es bereits auch aus, dass das Jobcenter ein Jobangebot an den Bürgergeld Bedürftigen verschickt.
Regierung begründet Vollsanktionen mit BVerfG-Urteil
Konkret geht es um den Bezug der Regierung auf Seite 22 des Entwurfs auf die Randziffer 209 des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, die ausdrücklich die Möglichkeit eines vollständigen Leistungsentzuges vorsieht. Dort heißt es unter Rz. 209 im letzten Satz:
[…] Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.
BVerfG – 1 BvL 7/16 – Rz. 209
Gleichzeitig, so heißt es im Gesetzesentwurf, soll die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs beim Bürgergeld-Gesetz weiterhin beachtet werden.
Vollsanktionen auch bei nicht existenzsichernder Erwerbstätigkeit
Problematisch ist, dass der Regierungsentwurf vorsieht, dass die zumutbare Arbeit so weit gehen muss, dass sie „im Einklang mit den Zielen des SGB II“ die Hilfebedürftigkeit verringern, vermeiden oder die Bezugsdauer verkürzen muss.
Ausdrücklich ist es laut Gesetzesentwurf keine Voraussetzung, dass die angebotene Arbeit zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit führen muss, da – so in der Begründung zur Einführung der Vollsanktionen – der Leistungsentzug von der Größe der Bedarfsgemeinschaft sowie den zu dem Zeitpunkt der Ablehnung der Erwerbstätigkeit herrschenden Einkommensverhältnissen abhängig wäre.
Streng genommen könnte das Jobcenter also auch in Teilzeitstellen oder sogar in einen Minijob vermitteln, da jede Tätigkeit zumindest die Hilfebedürftigkeit reduziert bzw. vermindert.
Minijob bei Bürgergeld – wie viel wird angerechnet?
Bundesverfassungsgericht falsch ausgelegt
Entscheidend bei der Einführung der Vollsanktionen ist, dass die Bundesregierung nicht nur auf existenzsichernde Erwerbstätigkeit abstellt und dennoch mit der Begründung des Bundesverfassungsgerichts argumentiert, um den vollständigen Entzug des Regelbedarfs bei wiederholter Arbeitsablehnung zu rechtfertigen.
Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich erklärt, dass der vollständige Leistungsentzug möglich sei, wenn Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, ihre Hilfebedürftigkeit durch eine ihnen angebotene zumutbare Tätigkeit zu beenden und zwar nur dann, wenn sie ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar mit der Erzielung von Einkommen sichern können. Existenzsichernd bedeutet, dass der Hilfebedürftige mit der im angebotenen aber abgelehnten Erwerbstätigkeit bei Antritt so gestellt würde, als sei er nicht mehr auf Sozialleistungen nach dem SGB II angewiesen.
Was bedeutet existenzsichernd?
Existenzsichernd wäre eine Erwerbstätigkeit, wenn das Einkommen nach Abzug der Freibeträge zumindest den Regelbedarf sowie die angemessenen Wohnkosten abdeckt. Ggfl. könnten hier noch Mehrbedarfe hinzukommen, sofern vorhanden.
Ein Single in Berlin hat bspw. einen Bedarf von 563 Euro Regelbedarf zuzüglich 426 Euro Wohnkosten bruttokalt und 75 Euro Heizkosten. Das Erwerbseinkommen müsste dementsprechend nach Abzug aller Freibeträge mindestens 1.064 Euro ergeben, damit es existenzsichernd wäre und die Hilfebedürftigkeit im Sinne des Bundesverfassungsgerichts beseitigen könnte.
Widerspruch erheben
Bereits vor Verkündung des Gesetzes im Bundesgesetzblatt (voraussichtlich Ende März 2024) wird deutlich – sofern sich nicht noch weitere Änderungen ergeben – dass die „neuen“ Vollsanktionen nicht mit dem Bundesverfassungsgericht vereinbar sind. Hier werden Hilfebedürftige gegen entsprechendes Sanktionsbescheide Widerspruch erheben müssen und die Sozialgericht werden wieder viel zu tun haben. Ebenso wird sich der Verwaltungsaufwand in den Jobcentern massiv erhöhen und es zeigt wieder eindrucksvoll, dass das Bürgergeld Hartz IV nicht überwinden konnte und die Einschränkungen wieder teilweise strikter werden.
Quellen:
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