Mit dem Bezug einer Altersrente erlischt normalerweise der Anspruch auf Bürgergeld, da die Erwerbsfähigkeit nicht mehr gegeben ist – eine zwingende Voraussetzung für die Grundsicherung nach SGB II. Doch es gibt besondere Fälle, die Ausnahmen erlauben. Dies zeigt ein aktuelles Urteil, das einem Bedürftigen trotz seiner Altersrente den Anspruch auf Bürgergeld zuspricht.
Ein ehemaliger türkischer Polizeibeamter hat vor dem Landessozialgericht Baden-Württemberg kürzlich Bürgergeld-Leistungen zugesprochen bekommen, obwohl er eine türkische Altersrente bezieht (Az. L 2 AS 2146/22, 10.07.2024). Das Gericht entschied zugunsten des Klägers, da die Rente aufgrund politischer Verfolgung und nicht aus freien Stücken beantragt wurde.
Rente reicht nicht – mit Wohngeld oder Sozialhilfe aufstocken
Hintergrund des Falls
Der Kläger, ein 1972 geborener türkischer Staatsangehöriger, beantragte im Januar 2019 Asyl in Deutschland, nachdem er aus politischen Gründen aus dem Polizeidienst in der Türkei entlassen und inhaftiert worden war. Nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 in der Türkei wurde er als Anhänger der Gülen-Bewegung beschuldigt und verfolgt. Seine Familie folgte ihm 2020 nach Deutschland.
Antrag auf Asyl und Sozialleistungen
Im November 2019 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft des Klägers an, lehnte jedoch die Asylanerkennung ab. Am 2. Dezember 2019 stellte der Kläger einen Antrag auf Hartz IV, das heutige Bürgergeld. Er gab an, eine türkische Rente von 3.000 Türkischen Lira (umgerechnet ca. 182 Euro) zu beziehen, die aber für den Lebensunterhalt seiner in der Türkei verbliebenen Familie verwendet werde.
Ablehnung durch das Jobcenter
Das Jobcenter lehnte den Antrag am 18. Februar 2020 ab. Die Begründung lautete, dass der Kläger aufgrund des Bezugs einer türkischen Altersrente gemäß § 7 Abs. 4 SGB II von den Leistungen ausgeschlossen sei. Diese Vorschrift besagt, dass Personen, die eine Altersrente oder eine ähnliche Leistung öffentlich-rechtlicher Art beziehen, keinen Anspruch auf Bürgergeld nach dem SGB II haben.
So viel Bürgergeld zahlt das Jobcenter für einen 1-Personen-Haushalt
Klage beim Sozialgericht Stuttgart
Im Juni 2020 erhob der Betroffene Klage beim Sozialgericht Stuttgart. Er argumentierte, dass er die Rente nicht freiwillig, sondern aufgrund seiner politischen Verfolgung und der daraus resultierenden Entlassung aus dem Polizeidienst beantragen musste. Im Juli 2022 entschied das Sozialgericht Stuttgart zugunsten des Klägers, hob den Bescheid des Jobcenters auf und verpflichtete das Jobcenter zur Zahlung von Bürgergeld-Leistungen ab dem 1. Dezember 2019.
Berufung und Vergleich
Das Jobcenter legte Berufung ein, und der Fall wurde vor dem Landessozialgericht Baden-Württemberg verhandelt. In einem Erörterungstermin im April 2024 einigten sich die Parteien auf einen Vergleich, der den streitigen Zeitraum auf den 1. Dezember 2019 bis 30. Juni 2020 beschränkte.
Urteil des Landessozialgerichts
Das Landessozialgericht bestätigte das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart. Es stellte fest, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II im Fall des Klägers nicht greife. Die Richter betonten, dass der Kläger nicht freiwillig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei, sondern aufgrund politischer Verfolgung und Inhaftierung in der Türkei gezwungen war, die Rente zu beantragen, um den Lebensunterhalt seiner Familie zu sichern.
Begründung des Urteils
Das Gericht stellte fest, dass der Kläger alle Voraussetzungen für den Bezug von Bürgergeld erfülle, einschließlich Alter, Erwerbsfähigkeit und Hilfebedürftigkeit. Der Kläger war zum Zeitpunkt der Rentengewährung 45 Jahre alt, was weit unter dem typischen Renteneintrittsalter liegt. Diese Tatsache verdeutlicht, dass der Kläger nicht aus freien Stücken in den Ruhestand gegangen war, sondern aufgrund seiner politischen Verfolgung.
Die Besonderheit des Falls liege darin, dass der Kläger nicht durch eigenen Entschluss oder aufgrund einer Altersgrenze aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei, sondern aus politischen Gründen. Er wurde aus dem öffentlichen Dienst entlassen, inhaftiert und nach seiner Entlassung aus der Haft gezwungen, die Rente zu beantragen, um den Lebensunterhalt seiner Familie zu sichern. Diese Umstände machten es notwendig, eine Ausnahme vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II zu machen.
Das Gericht betonte, dass der Sinn und Zweck des § 7 Abs. 4 SGB II darin bestehe, sicherzustellen, dass Personen, die typischerweise aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, nicht zusätzlich Grundsicherungsleistungen erhalten. Im Fall des Klägers sei jedoch die Annahme, dass seine erwerbsbiografische Lebensphase abgeschlossen sei, nicht zutreffend. Er sei weder durch eigenen Entschluss noch durch das Erreichen einer Altersgrenze aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, sondern aufgrund politischer Verfolgung. Der Kläger zeigte auch nach seiner Flucht nach Deutschland den Willen und die Fähigkeit zur Erwerbstätigkeit, indem er Sprach- und Integrationskurse besuchte und Arbeit suchte.
Verfahrensgang:
LSG Baden-Württemberg, Az. L 2 AS 2146/22 vom 10.07.2024
SG Stuttgart, Az. S 22 AS 839/22 vom 13.07.2022
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