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Bürgergeld-Willkür: Gericht zeigt Jobcenter die rote Karte

Wütender Richter zeigt frontal mit dem Finger

Sanktionen oder im Bürgergeld-Jargon Leistungsminderungen zählen zu den größten Diskussions- und Streitpunkten. Das beweist auch ein Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe (Az.: S 12 AS 2046/22). Während man im Eilverfahren noch aufseiten des Jobcenters stand und eine Totalsanktion befürwortete, folgten im zweiten Schritt eine Entschuldigung und ein Rundumschlag gegen das Vorgehen des Jobcenters und damit gegen die um sich greifende Behörden-Willkür.

Ärger mit dem Jobcenter

Das Jobcenter hatte einer Frau für die Zeit von November 2021 bis Oktober 2022 Bürgergeld (damals noch Hartz IV) und die Kosten für Unterkunft und Heizung bewilligt. Der Ärger begann, als die Bürgergeld Bedürftige im Januar 2022 erklärte, für ihr Kind „Unterhalt in bar“ zu erhalten. Um ihre finanziellen Verhältnisse nachzuweisen, legte sie dem Jobcenter einen geschwärzten Kontoauszug vor.

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Sanktionen aus öffentlichem Interesse

Daraufhin forderte das Jobcenter die Frau auf, aussagekräftige Kontoauszüge und das Formular für Leistungsfälle mit Unterhaltsbezug vorzulegen. Da die Frau auf Nachfragen nicht reagierte, wurden sämtliche Leistungen – auch die Wohnkosten – mit Hinweis auf § 66 SGB I komplett gestrichen, auch rückwirkend. Dabei verwies man auf das „öffentliche Interesse an Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit“. Auszug aus dem § 66 SGB I:

„Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind.“

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Widerspruch nur zum Teil erfolgreich

Der Widerspruch der Frau war nur insofern erfolgreich, als der rückwirkende Teil der Entziehung aufgehoben wurde. Für die Zeit vom 7. Mai 2022 bis 31. Oktober 2022 blieb es dabei: Eine 100-Prozent-Leistungsminderung gegen eine Mutter mit Kind. In der Begründung hieß es, Ermessensfehler seien nicht ersichtlich. In einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren (Aktenzeichen: S 5 AS 2062/22 ER) wurde der Eilantrag der Frau abgelehnt.

Rundumschlag gegen Jobcenter

Das Hauptsacheverfahren (Aktenzeichen: S 12 AS 2046/22, Entscheidungsdatum: 9. Mai 2023) verlief dann völlig anders. Das Jobcenter wurde dazu verurteilt, die Grundsicherungsleistungen für den bewilligten Zeitraum auszuzahlen. Gleichzeitig erhielt die Behörde eine „Lehrstunde“ in Sachen Recht und Ordnung.

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Beschönigende Häme

Das Jobcenter hatte angesichts der Totalsanktion von einer „sanften Druckausübung“ gesprochen. Es gäbe kein milderes Mittel mit gleicher Erfolgswahrscheinlichkeit und vergleichbar niedrigem Aufwand. Bereits diese Formulierung wirke „als ironisch-beschönigende Häme“, so das Sozialgericht Karlsruhe. Das Gericht nannte es „sprachlich ausfällig“. Und: Von einem 2019 geborenen Kind Kontoauszüge oder ein ausgefülltes Formular zu verlangen, sei subjektiv unmöglich.

Nicht mit der Kundin gesprochen

Begründet wurde die Kehrtwende in dem Fall in erster Linie damit, dass die Sanktion nicht ausreichend begründet worden war. Zudem hätte das Jobcenter der Frau die Gelegenheit geben müssen, ihre persönliche Situation nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich vorzutragen.

„Denn prognostisch ist auch im Hinblick auf die allseits wünschenswerte Qualität einer oft jahrelangen Kundenbindung der Jobcenter zu Menschen mit gewichtigen sozialen Teilhabeeinschränkungen ein empathisch zugewandter Dialog auf Augenhöhe regelmäßig vielversprechender als ein nicht selten von vorneherein zweckloser Versand förmlicher Mitwirkungsaufforderungen.“

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Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Eine Rolle spielte bei der Urteilsfindung auch die Tatsache, dass bereits das Bundesverfassungsgericht Kürzungen über 30 Prozent (Az. 1 BvL 7/16) beanstandet hatte. Ferner decke § 66 SGB I keine dauerhafte Entziehung von Leistungen.

Gönnerhaftes Selbstverständnis

„Der Beklagte [das Jobcenter] hätte hier rechtlich mehr gedurft, als eine Totalentziehung zu erlassen“, heißt es in der Urteilsbegründung. Der Entziehungsbescheid lasse keine hinreichende Auseinandersetzung mit der Frage erkennen, ob auch eine teilweise Kürzung der Leistung ausreichend gewesen wäre. Die Einzelfallumstände wurden nicht ermittelt. Der Ermessensausübung hafte vielmehr der Nachgeschmack eines „autoritär-gönnerhaften Selbstverständnisses“ an.

Wertschätzender Ton zumutbar

Noch deutlicher wird das Gericht, das sich für sein „unverzeihliches Versagen“ im ersten Eilverfahren entschuldigte, hinsichtlich der Anforderungen, die ein Jobcenter eigentlich erfüllen sollte:

„Jedem steuerfinanzierten „Kundenberater“ jedes steuerfinanzierten „Jobcenters“ ist es zuzumuten, seinen königlichen „Kunden“ bei Bedarf „Kundengespräche“ in wertschätzendem Ton anzubieten und wohlwollend um ihre Mitwirkung zu werben.“

Titelbild: TSViPhoto / shutterstock