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Bürgergeld: Bedingungsloses Einkommen durch die Hintertür?

Hände halten Portemonnaie mit Geldscheinen

In einem Interview mit der WELT äußerte sich eine erfahrene Jobcenter-Mitarbeiterin kritisch zum Bürgergeld. Sie sieht das aktuelle System als eine Art „bedingungsloses Grundeinkommen durch die Hintertür“ und spricht offen über die Herausforderungen und Ungerechtigkeiten, die sie in ihrer täglichen Arbeit erlebt.

Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass dies die persönliche Meinung einer einzelnen Mitarbeiterin ist – die auch gerade in der Politik in diese Richtung diskutiert wird. Eine Bewertung der Aussagen können wir nicht vornehmen, da es – wie in jedem System – schwarze Schafe gibt. Einseitig ist auch die Sichtweise auf das Lohnabstandsgebot, welches von der Mitarbeiterin angesprochen wird. Um dieses zu wahren, müssten ihrer Ansicht nach die Leistungen gesenkt werden – faire, gerechte und ausreichende Löhne hingegen spricht sie nicht an. Grundsätzlich dürfen Bürgergeld Bedürftige nicht unter Generalverdacht gestellt werden. Statistiken zeigen, dass die Mehrheit der Hilfebedürftigen das System nicht ausnutzen sondern tatsächlich auf die staatliche Hilfe angewiesen sind, die häufig eben unzureichend ist.

Seit Jahren kein Kontakt

Die Jobcenter-Mitarbeiterin betreut über 130 Kunden, von denen etwa sechs Prozent als Totalverweigerer gelten. Diese Menschen entziehen sich konsequent jeglicher Kommunikation und Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. „Manche meiner Kunden habe ich seit sechs Jahren nicht gesehen“, berichtet sie frustriert. Trotz wiederholter Versuche, diese Personen zu kontaktieren, bleiben sie unauffindbar oder ignorieren jegliche Aufforderungen zur Zusammenarbeit. „Wenn ein Kunde nicht ans Telefon geht, ist das ärgerlich, bleibt aber ohne Konsequenz“, erklärt sie. Die aktuellen Sanktionen, die in solchen Fällen verhängt werden können, sind minimal und zeigen selten Wirkung.

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Bürgergeld als Lebensmodell

Die Fallmanagerin kritisiert das Bürgergeld scharf, insbesondere in Bezug auf das Lohnabstandsgebot, das sicherstellen soll, dass Arbeit sich mehr lohnt als der Bezug von Sozialleistungen. Sie weist darauf hin, dass Familien mit mehreren Kindern durch das Bürgergeld oft besser abgesichert sind als Alleinstehende, die im Niedriglohnsektor arbeiten. „40 Stunden putzen, kassieren oder pflegen für kaum mehr Geld als mit Sozialleistungen, das ist ungerecht. Da wird das Lohnabstandsgesetz gebrochen“, erklärt sie.

Ein besonders frustrierender Fall betrifft ein Paar mit fünf Kindern, das nun sein sechstes erwartet: „Mit dem ersten Kind hat sie aufgehört zu arbeiten, er schloss sich beim dritten Kind an. Beide haben die Mittlere Reife und eine abgeschlossene Ausbildung in Berufsfeldern mit Fachkräftebedarf.“ Doch statt wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen, bleibt das Paar im Bezug von Bürgergeld, ohne finanzielle Nachteile zu spüren. „Wir wollten schon immer eine große Familie haben“, hatte der Mann in einem ihrer letzten Gespräche gesagt.

So viele bekommen aktuell Bürgergeld

Laut jüngster Jobcenter Auswertung (April 2024) wurden bundesweit 2.950.226 Bedarfsgemeinschaften (Haushalte im Leistungsbezug) geführt, aufgeteilt wie folgt:

  • 1.648.814 Single-BGs mit ⌀ 1.028 Euro Leistungsanspruch monatlich
  • 545.016 Alleinerziehende-BGs mit ⌀ 1.477 Euro monatlich
  • 243.895 Partner BGs ohne Kindern mit ⌀ 1.431 Euro monatlich
  • 447.439 Familien mit Kindern mit ⌀ 2.222 Euro monatlich
  • 64.863 nicht zuordenbare BGs mit ⌀ 1.498 Euro monatlich

Arbeit muss attraktiver werden

Die JC-Mitarbeiterin sieht dringenden Reformbedarf, um das Lohnabstandsgebot wiederherzustellen und das System gerechter zu gestalten. „Das Unterstützungsniveau müsste so gesenkt werden, dass sich Arbeit in jedem Fall lohnt“, fordert sie. Auch die Sanktionen für Pflichtverletzungen sollten verschärft werden, um sicherzustellen, dass Menschen sich aktiv um eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt bemühen.

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Ein weiterer Reformvorschlag betrifft die Karenzzeiten, in denen Vermögen und Wohnsituation der Leistungsbezieher unberücksichtigt bleiben. „Wenn Sie aktuell in einem Penthouse leben und 35.000 Euro von Ihrer Großmutter geerbt haben, darf uns das ein Jahr lang nicht interessieren. Das Jobcenter zahlt Ihre Miete und überweist Ihnen monatlich den Grundsatz“ (aktuell 563 Euro für alleinstehende Erwachsene, 1.012 Euro für Paare), kritisiert sie und fordert eine raschere Prüfung der Vermögensverhältnisse.

Missbrauch verhindern

Ihr Fazit ist deutlich: „Eigentlich ist das Bürgergeld ein bedingungsloses Grundeinkommen durch die Hintertür. Man kann machen, was man will, es wird weitergezahlt.“ Die Fallmanagerin fordert umfassende Reformen, um das Sozialsystem gerechter zu gestalten und den Missbrauch zu verhindern. Nur so könne das Bürgergeld seine eigentliche Funktion erfüllen: Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren und das Lohnabstandsgebot zu wahren, das besagt, dass sich Arbeit finanziell lohnen muss.

Quelle: WELT Interview, Titelbild: fornStudio / shutterstock