Gehört es inzwischen zum guten Ton, Armutsbetroffenen den „richtigen“ Lebensweg zu erklären? Dieses „wenn … dann …“ und „jeder ist seines Glückes Schmied“ mag die Bürgergeld-Debatte am Stammtisch beleben. Für Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, gleichen die Vorhaltungen einem Schlag in die Magengegend. Suggerieren sie doch, man sei selbst schuld an seiner Lage und hätte nur da und müsste nur dort … Ach, wäre es schön, wenn sich das Leben so einfach erklären ließe.
Unverantwortlich und egoistisch
Von oben herab erklärt Joe Milton auf Twitter, es sei „egoistisch und verantwortungslos“, eine Arbeit zu wählen, mit der man seine Familie nicht ernähren könne. Damit reagiert er auf den Hinweis von Marlene Meurer, sie kenne an der Uni promovierte Kollegen, die hauptamtlich arbeiten und mit 50 Prozent vergütet würden. Sie seien dadurch auf ergänzendes Bürgergeld angewiesen, um über die Runden zu kommen.
Fast 800.000 Aufstocker
Laut Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) hätten sich entsprechend der Sichtweise von Herrn Milton knapp 799.000 Menschen (Stand November 2022) schlichtweg für den „falschen Job“ entschieden. Sie alle müssen ihr Gehalt mit Bürgergeld aufstocken. Viele, obwohl sie Vollzeit malochen. Trotzdem beim Amt „bitte, bitte“ machen zu müssen, ist ganz gewiss nicht angenehm und schon gar nicht egoistisch. Man stelle sich nur vor, all diese Stellen wären unbesetzt.
Insiderin: Auch Jobcenter-Mitarbeiter müssen mit Bürgergeld aufstocken
Arbeiten und Angehörige ins Heim abschieben
Aber das ist so leicht gesagt, und in den sozialen Netzwerken längst Usus. Einer Nutzerin war vor Wochen vorgeworfen worden, sie hätte nur weiter arbeiten gehen müssen, statt sich um die Mutter zu kümmern. Dann wäre jetzt alles gut. Auch hier gilt: Menschen, die Angehörige pflegen, leisten offenbar nicht genug. Sie entlasten das angeschlagene Pflegesystem und nehmen dafür in Kauf, arm zu werden. Ist das auch verantwortungslos oder mangelt es vielleicht an (politischer) Unterstützung für Pflegende – die etwa der Sozialverband VdK anmahnt?
Das Problem der Alleinerziehenden
Ähnlich geht es allen, die alleinerziehend sind und sich um ihre Kinder kümmern. Mal eben einen Job zu finden, der Nachwuchs und Beruf unter einen Hut bringt, ist nicht überall möglich. Dass am Arbeitsmarkt flexiblere Lösungen nötig sind, um dieses Vermittlungshemmnis zu beseitigen, gehört zu den Anregungen, die von wirtschaftswissenschaftlicher Seite kommen.
In der Schule aufpassen hilft gegen Armut
Bleiben noch die Kinder, die mit Bürgergeld groß werden und damit akut armutsgefährdet sind. Selbst ihnen wirft man indirekt schon vor, ihre Lage selbst verantwortet zu haben. Twitter-Userin „Kexi“ platzt der Kragen, wenn sie liest, man müsse nur fleißig in der Schule aufpassen und das Richtige tun. Dann sei Armut unwahrscheinlich. Klar: Der Weg raus aus dem Bürgergeld ist möglich, aber schwer. Leichter wäre es, wenn man von Chancengleichheit sprechen könnte. Die gibt es leider nicht. Ein erster Schritt wäre die Kindergrundsicherung. Doch bei diesem Punkt streitet die Ampel lieber, statt Kindern zu helfen.
Bürgergeld-Bedürftige müssen sich immer rechtfertigen
Der kritische Blick nach unten
Das Problem hierzulande hat Helena Steinhaus vom Verein Sanktionsfrei auf den Punkt gebracht:
„Wir gucken nicht nach oben kritisch, sondern nach unten und verwechseln Geld mit Leistung.“
Mehr noch: Es wird unreflektiert nach unten getreten. Wie würde Herr Milton wohl reagieren, wenn er – wie viele während der Corona-Pandemie – seinen Job verliert und plötzlich in der Schusslinie steht? Das passiert oft schneller, als einem lieb sein kann. Wie unverantwortlich von ihm, eine Arbeit gewählt zu haben, bei der man gekündigt oder dauerhaft krank werden kann.
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