Die Augenbinde von Justitia verrutscht offenbar immer mehr, wenn es um soziale Belange geht. Diesen Schluss lassen die Aussagen von Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts, zu. Er übt offen Kritik am Bürgergeld. Allerdings nicht in dem Sinn, dass mehr für faire Regelsätze unternommen werden müsste. Im Gegenteil: Der oberste Sozialrichter hält die Erhöhung des Bürgergelds für falsch und sieht noch viel Luft nach oben bei Sanktionen.
Offene Kritik am Sozialstaat
Der Sozialstaat steht aktuell unter Dauerbeschuss. Von allen Seiten werden das Bürgergeld, die Kindergrundsicherung und andere Leistungen kritisiert. Das bekommt nicht nur die Politik zu spüren, sondern in erster Linie Betroffene. Bürgergeld Bedürftige als Schmarotzer darzustellen, gehört längst zum guten Ton. Und das Befürworten von härteren Strafen wird nicht hinterfragt, sondern als Nonplusultra im Kampf gegen leere Kasse verkauft. Wenn nun auch noch der BSG-Präsident und CDU-Mitglied das Bürgergeld als zu hoch erklärt und von „Wohltaten“ spricht, kommen düstere Zeiten auf Armutsbetroffene zu.
Klare Kante gegen Höhe der Regelsätze
Im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ äußerte sich Rainer Schlegel zu vielen Aspekten des Sozialstaats, aber auch zu Minijobs, die seiner Meinung nach abgeschafft werden müssten, und dem Ehegattensplitting. Sehr viel Raum nimmt dabei das Thema Bürgergeld ein. In diesem Kontext betont er mehrfach, dass nicht die Gerichte die Regelsätze und die Vorschriften zur Anpassung vorgeben. Es sei der Gesetzgeber.
Drastische Erhöhung
Das Bundesverfassungsgericht fordere lediglich, dass ein soziokulturelles Existenzminimum gesichert werden müsse. Diesbezüglich sieht Rainer Schlegel die Fortschreibung der Regelsätze zum 1. Januar 2024 kritisch.
„Sie war gesetzlich so vorgesehen, das Gesetz also hätte weniger drastische Erhöhungen vorsehen müssen“,
erklärte er im Interview.
Zu viele Bürgergeldempfänger
Bitter stößt dem BSG-Präsidenten auch der Umstand auf, dass mehr Menschen Anspruch auf Bürgergeld haben. Die Schwelle, ab wann jemand bedürftig sei, habe man angehoben, halte Eigenheime bis 140 Quadratmeter für angemessen und erlaube jedem Erwachsenen einer Bedarfsgemeinschaft, ein Auto zu besitzen. Dabei käme
„die breite Mitte unserer Gesellschaft, die diese Leistungen aus ihrem Lohn erbringen muss“,
zu kurz.
Sanktionen werden nicht durchgesetzt
Der Akzeptanz des Bürgergelds schade jedoch noch mehr, dass bei Bürgergeld Sanktionen zu stark zurückgerudert worden sei und Jobcenter die Vorschriften zu Leistungsminderungen nicht konsequent durchsetzten. Jemand, der 40 Stunden arbeite, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen, werde
„wenig Verständnis dafür haben, wenn sein Nachbar, der Bürgergeld bekommt, ein zumutbares Arbeitsangebot ablehnt“.
Entzug aller Leistungen
Härtere Strafen seien möglich, so Rainer Schlegel. Das Bundesverfassungsgericht erlaube einen vollständigen Leistungsentzug, wenn zumutbare Arbeit ohne sachlichen Grund abgelehnt werde. Denn: Jeder müsse
„alles Zumutbare dafür tun, um seine Bedürftigkeit zu überwinden“.
Daher plädiert der oberste Sozialrichter dafür, nicht nur den Regelsatz, sondern bei Alleinstehenden auch die Leistungen für Unterkunft und Heizung zu streichen – nicht bei Familien, denn Kinder könnten nichts dafür.
Peitschenhiebe auf dem Rücken Betroffener
Diese Peitschenhiebe Richtung Bürgergeld Bedürftige machen wenig Hoffnung, dass die Klagen gegen die Höhe der Regelsätze – teils noch aus Zeiten von Hartz IV – irgendeinen Erfolg haben. Vom Präsidenten des Bundessozialgerichts sollte man eigentlich erwarten, dass er die Nöte der Menschen wie Alters-, Kinder- und Ernährungsarmut kennt. Stattdessen reitet er munter auf der Welle der Bürgergeld Kritiker.
Bild: Sittipol sukuna/ shutterstock