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Bürgergeld-Streitfall: Wenn 72 Euro mehr zählen als Lebensqualität

Junge Frau schaut ungläubig über ihre Brille hinweg

Gewissenlos und weit weg von dem, was als Augenhöhe beim Bürgergeld versprochen wurde, haben das Jobcenter und das Sozialgericht Bremen einer Familie mit behindertem Sohn die Kostenübernahme für eine Wohnung verweigert – obwohl Arzt und die Fachstelle Wohnen für den barrierefreien Wohnraum plädierten. Dabei ging es um ganze 72,60 Euro im Monat über dem angemessenen Mietrichtwert. Lächerlich angesichts der Tatsache, dass der junge Mann damit erheblich mehr Lebensqualität hätte.

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Streit um barrierefreie Wohnung

Das Eilverfahren drehte sich um die Weigerung des Jobcenters, die Kosten für eine neue Wohnung zu übernehmen. Betroffen: Eine alleinstehende Frau mit fünf Kindern im Alter von neun bis 22 Jahren, von denen der älteste Sohn schwerbehindert und pflegebedürftig mit Pflegegrad 4 ist. Der 22-Jährige hat einen Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen B (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson), G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) sowie H (Hilflosigkeit) – die Mutter ist zur Betreuerin bestellt.

Die Familie lebt im ersten Obergeschoss in einer 83 Quadratmeter großen Wohnung. Damit der schwerbehinderte Sohn das Haus verlassen kann, muss er mühsam durch das Treppenhaus getragen werden. Ohne Umzug in barrierefreien Wohnraum ist der Junge praktisch in der Wohnung eingeschlossen und bedürfe zudem ein eigenes Zimmer.

Jobcenter verweigert Kostenübernahme

Die Mutter bemühte sich um eine barrierefreie Wohnung. Sie hatte auch Angebote, die vom Jobcenter Bremen als angemessen bewertet worden waren. Allerdings erwiesen sich die Objekte im Nachhinein doch als ungeeignet oder waren direkt wieder vermietet und damit vergriffen. Als dann eine passende Wohnung gefunden war und die Fachstelle Wohnen die Anmietung befürwortet hatte, lehnte das Jobcenter die Kostenübernahme ab.

Die Begründung: Die Wohnung sei zu teuer – und das, obwohl die Bürgergeld Bedürftige auf eigene Initiative einen Nachlass aushandeln konnte. Doch 1.425,60 Euro waren dem Jobcenter zu hoch. Angemessen seien 1.353 Euro (Differenz: 72,60 Euro). Zudem habe die Frau eine andere, günstigere Wohnung, die man genehmigt hatte, nicht angenommen. Eine Sichtweise, die auch das Sozialgericht Bremen teilte (S 36 AS 815/23 ER).

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Persönliche Lebensumstände berücksichtigen

Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen handelte umgehend, um der Frau zu helfen (L 13 AS 185/23 B ER). Die Richter trafen eine einstweilige Anordnung, mit der das Jobcenter verpflichtet wurde, die Kosten in voller Höhe zu übernehmen. Möglich ist ein solcher Schritt, der die Hauptsache in einem Verfahren vorwegnimmt, wenn es sich um die „Abwendung wesentlicher Nachteile“ handelt und nach „materiellem Recht ein Anspruch auf die begehrte Leistung besteht“.

Aus Sicht des Landessozialgerichtes sind die Wohnkosten angemessen. Denn – dahin gehend belehrte der Senat das Sozialgericht: Es dürfe nicht nur eine abstrakte Angemessenheitsprüfung vorgenommen werden. „Die persönlichen Lebensumstände sind bei der Prüfung der Angemessenheit der Kosten nicht unbeachtlich“ heißt es im Urteil. Bei relevanten Besonderheiten können tatsächliche Aufwendungen, die das abstrakte Maß übersteigen, daher dennoch angemessen sein.

Hierbei bezogen sich die Richter auch auf eine Verwaltungsanweisung der Bremer Senatorin für Soziales, Jugend, Integration und Sport. Demnach müssen die Mieten bei behindertengerechten Wohnungen für Rollstuhlfahrer in tatsächlicher Höhe anerkannt werden, wenn keine angemessene Wohnung verfügbar sei.

Vorwurf der Untätigkeit entkräftet

Entkräftet wurde auch der Vorwurf des Jobcenters, die Bürgergeldempfängerin habe sich nicht ausreichend um Wohnraum bemüht und eine andere Wohnung nicht genommen. Diesbezüglich betonten die Richter, dass Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende unabhängig von einem etwaigen Verschulden in der Vergangenheit gewährt werden müssen.

Man könne den behinderten Sohn, dessen Anspruch auf eine volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft massiv beeinträchtigt sei, nicht auf mögliche Versäumnisse der Mutter verweisen. Zudem gebe es Zeugen, die bestätigen, dass die Frau mit aller Kraft eine passende Wohnung gesucht habe. Sie habe sich, so die Richter, sogar nachhaltig um eine Reduzierung der Grundmiete bemüht.

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Jobcenter kann keine Alternative vorweisen

Das Jobcenter habe hingegen keine Anhaltspunkte vortragen können, wonach die Bürgergeld Empfängerin in absehbarer Zeit ein kostengünstigeres Angebot erlange. Unverständlich sei zudem, warum vorher eine identische Wohnung als angemessen gewertet worden war und man sich jetzt weigere, 72,60 Euro mehr zu bezahlen. Kurzum „Angesichts dieser nur geringfügigen Differenz ist die fehlende Bereitschaft des Antragsgegners, für die nunmehr in Rede stehende Wohnung eine Mietübernahmebescheinigung auszustellen, für den Senat nicht mehr nachvollziehbar.“

Titelbild: pathdoc / sahutterstock