Zwangsarbeit, härtere Sanktionen und bestenfalls weniger oder gar kein Geld mehr für Bürgergeld-Bedürftige: So einfach lassen sich sämtliche Probleme des Landes lösen. Und für alle, die sich als armutsbetroffen outen, lautet der ultimative Tipp in den sozialen Medien, „geh doch arbeiten“. Herablassende und bevormundende Kommentare sind längst an der Tagesordnung und spiegeln die politische Stimmung wider, die von rechts immer weiter aufgeheizt wird – stets zulasten der Schwächsten.
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Halbwissen statt echter Fakten
Betrachtet man die Posts, die mit Rezepten gegen Armut und für Vollbeschäftigung aufwarten, erkennt man bei näherem Hinsehen: Sie strotzen oft vor Unwissen, Halbwissen und schlicht falschen Aussagen rund ums Bürgergeld, sind beleidigend und stoßen auch jene vor den Kopf, die jeden Tag hart arbeiten. Beispiel gefällig: der Post des Unternehmers Simon Betschinger vom 18. August 2023 auf „X“ (ehemals Twitter):
Armutsbetroffene sollen Kellnern
Darin wirft er Bürgergeld Empfängern vor, Kellnern für einen nicht zumutbaren Job zu halten. Der Sozialstaat sei zu sehr aufgebläht. Sein Rat: Der arbeitenden Bevölkerung die Steuerlast reduzieren und Transferleistungen müssten ebenfalls reduziert werden, um Arbeitsanreize zu schaffen,
„anstatt leistungslos Geld zu beziehen“.
Das sei eine Frage der Gerechtigkeit. Später führt er als Antwort auf einen Kommentar aus,
„wer kellnert, führt ein menschenwürdiges Leben“.
Der Wunsch nach einer Reduzierung der Steuern für die arbeitende Bevölkerung ist nachvollziehbar und sehr begrüßenswert. Aber die Herabwürdigung eines Berufes und eine pauschale Verurteilung von Bürgergeld Bedürftigen ist sehr polemisch und herablassend.
Herabwürdigung aller Kellnerinnen und Kellner
Punkt 1: Mit der Aufforderung, jeder Bürgergeldempfänger möge kellnern gehen, um nicht länger dem Staat auf der Tasche zu liegen, macht sich der Unternehmer zwar viele Freunde unter den Sozialsystemkritikern. Gleichzeitig bringt er aber zum Ausdruck: Kellnern kann jeder. Damit würdigt er diese Arbeit und jede und jeden, der dieser Arbeit nachgeht, herab.
Anm. d. Redaktion: Ähnlich wenig Wertschätzung erfahren auch Berufe in der Pflegebranche oder Erzieher in den Kindergärten. Häufig liest man in den sozialen Medien und Kommentaren, dass man den Personalmangel dort mit Bürgergeld-Bedürftigen „stopfen“ soll.
Nicht jeder kann diesen Job ausüben
Vor allem verkennt der Herr, dass jemand, der sich den Rücken auf dem Bau kaputtmalocht hat, eben nicht kellnern kann. Oder anders ausgedrückt: Das ist kein Job für jeden. Darauf wird auch in den Kommentaren aufmerksam gemacht, mit Hinweis darauf, dass solche Aussagen arrogant seien und davon zeugten,
„dass du von echter Arbeit nicht die geringste Ahnung hast“.
Sanktionen wurden nicht abgeschafft
Punkt 2: Wenn das Jobcenter der Meinung ist, ein Bürgergeld-Empfänger könne in der Gastronomie arbeiten, und man weigert sich, drohen Leistungsminderungen. Denn, was viele Stammtisch-Experten wohl falsch verstanden haben: Die Sanktionen wurden nicht abgeschafft, sondern lediglich entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts überarbeitet und mit der Einführung des Bürgergeldes zu Leistungsminderungen umbenannt.
Aufstocken trotz Arbeit
Punkt 3: Kellnern gehört nicht zu bestbezahlten Jobs und wird eher selten als Vollzeitstelle angeboten – gut die Hälfte der dort Beschäftigten in dieser Branche sind nur geringfügig in einem Minijob angestellt. Daraus ergibt sich dann ein Problem, das der Bürgergeld-Profi übersehen hat. Reicht der Lohn nicht, um über die Runden zu kommen und eine Familie zu ernähren, muss auch weiterhin mit Bürgergeld aufgestockt werden.
Und da sind wir wieder an dem Punkt mit mehr Arbeitsanreizen durch weniger Geld und bei Punkt 4. Denn es ist falsch, dass alle Bürgergeld-Bedürftigen nur Däumchen drehen und auf den Tag warten, an dem das Geld auf dem Konto landet, um gleich darauf Schampus und Zigaretten zu kaufen. Richtig ist: Viele arbeiten und stocken auf.
48 Euro mehr Bürgergeld für Aufstocker
Nach aktuellen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (Stand April 2023) gehen über 20 Prozent der 3,8 Millionen Hilfebedürftigen einer Erwerbstätigkeit nach, davon wiederum fast 36 Prozent einer ausschließlichen Beschäftigung in einem Minijob. Auch Alleinerziehende sollte man nicht außer Acht lassen, die teilweise wegen der Erziehung der Kinder keine Möglichkeit haben, zu arbeiten. Dieser Personenkreis macht etwa 15 Prozent der Hilfebedürftigen aus, von denen allerdings auch 22 Prozent einer Erwerbstätigkeit nachgehen.
Geh doch arbeiten
Das geht unter. Auch die Tatsache, dass viele Haushalte trotz Arbeit armutsbetroffen sind. Aber vom hohen Ross ist es anscheinend ganz leicht, Tipps geben, bis man selbst vom Sattel fällt und vom nächsten Experten herablassend aufgefordert wird, „geh doch arbeiten“.
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