Aus einem Tweet wurde eine Bewegung. Den Hashtag #IchBinArmutsbetroffen gibt es inzwischen ein Jahr. Seither ist viel passiert. Menschen, die sonst vorwiegend unter dem Radar unterwegs waren, erheben ihre Stimme und erzählen ihre Geschichte. Bürgergeld Bedürftige, Rentner, Beschäftigte in prekären Jobs – jene, die arm sind und sich dafür geschämt haben und teils immer noch schämen. Denn trotz der neuen Öffentlichkeit des Themas begegnen Betroffenen nach wie vor Hass und Missgunst.
Rückblick auf die Anfänge
Am 12. Mai twitterte Anni W. (@Finkalusa):
„Ich würde mich freuen, wenn ihr mitmacht. Nur ein kleiner Tweet zu euch. Lasst uns zeigen, wer wir sind (nicht zwingend mit Foto!), dass wir KEINE Zahlen sind. Ob H4, Rente, Aufstocker oder oder oder.“
#IchBinArmutsbetroffen
— Anni (@Finkulasa) May 12, 2022
Ich würde mich freuen, wenn ihr mitmacht. Nur ein kleiner Tweet zu euch. Lasst uns zeigen, wer wir sind (nicht zwingend mit Foto!), dass wir KEINE Zahlen sind.
Ob H4, Rente, Aufstocker oder oder oder ^^
Ergänzt um den Hashtag #IchBinArmutsbetroffen. Zuvor hatte sie ihrer Wut Luft gemacht, weil wieder einmal über Hartz IV Bedürftige hergezogen worden war. Sie reagierte mit dem Hinweis, nicht faul, dumm oder unsozial zu sein. Sie sei ein Mensch und kein Klischee.
Armut ein Gesicht geben
Daraufhin brachen im wahrsten Sinne des Wortes die Dämme. Menschen, die in Armut leben, rissen die Mauern ein, die sie aus Angst und Scham um sich hoch gemauert hatten. Sie erzählen, warum sie arm sind. Wie man sich fühlt, wenn man andere im Restaurant sieht, im Supermarkt selbst das Toastbrot zu teuer ist oder die Kinder nur einen gebrauchten Schulranzen haben. Binnen eines Monats folgten über 100.000 Tweets, mit denen Betroffene Armut ein Gesicht geben.
Enorme mediale Resonanz
Die überwältigende Resonanz schuf schon nach einem Tag so viel Aufmerksamkeit, dass die OneWorryLess Foundation (#EineSorgeWeniger @sorgeweniger) die Aktion seither mit viel Engagement unterstützt. Es dauerte auch nicht lange, bis erste Medien auf den Hashtag #IchBinArmutsbetroffen aufmerksam wurden und die Geschichten Hartz IV Bedürftiger (heute Bürgergeld) oder Rentner aufgriffen.
Wir sind nicht allein
Bis es die Aktion aus der Anonymität des Internets auf die Straße brachte, vergingen weniger als 14 Tage. Das Bewusstsein, mit den Sorgen und Nöten nicht allein zu sein, verlieh vielen den Mut, den sie eigentlich verloren geglaubt hatten. Schon Ende Mai 2022 wagten Betroffene den Schritt, und demonstrierten in Berlin, Düsseldorf, Köln, Hamburg und anderen Städten. Auf den Plakaten war und ist zu lesen „uns steht das Wasser bis zum Hals“ oder die Forderung „Armut abschaffen“.
Armut greift gnadenlos um sich
Damit hat der Hashtag zumindest in einigen Teilen der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass Armutsbetroffene keine Aussätzigen sind, sondern Menschen „wie Du und ich“. Die Schicksale zeigen sehr eindrucksvoll: Es kann jeden treffen. Schon heute sind über 14 Millionen Menschen von Armut betroffen oder von Armut gefährdet. Das ist fast jeder sechste Bundesbürger. Bei Kindern liegt die Quote noch höher. Jedes fünfte Kind ist arm.
Mittelschicht rutscht immer weiter ab
Die Inflation befeuert diese Entwicklung. Haushalte, die sonst problemlos über die Runden kommen, stehen vor dem Problem, jeden Cent mehrfach umdrehen zu müssen, um Rechnungen bezahlen zu können. Deshalb fordert der Kölner Armutsforscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge auch die Mittelschicht auf, endlich die Stimme zu erheben und aufzustehen.
Armut verfestigt sich
Denn wenn man erst einmal arm ist, gestaltet sich der Weg zurück nach oben äußerst steinig.
„Wir haben eine Verschärfung von Armut und eine Verfestigung. Diejenigen, die unter den Bedingungen von Armut leben, kommen seltener raus“,
erklärt Holger Schoneville, Juniorprofessor für Sozialpädagogik an der Universität Hamburg. Er untersucht die Tweets zum Thema Armut.
Was hat sich geändert?
Mit der Aktion auf Twitter ist das einstige Tabu stärker in den Fokus gerückt. Die Behauptung, dass Armut in Deutschland gar nicht existieren könne, wurde eindrucksvoll widerlegt. Und ganz langsam bahnt sich auch die Erkenntnis, dass Armut nicht auf Faulheit beruht, ihren Weg. „Heute könnte man nicht mehr sagen, dass Arme faul sind“, so Schoneville. Denn wer durch Corona den Job verloren hat und dadurch arm wurde, dem würde niemand unterstellen, faul zu sein.
„Wir leben in einer Zeit, in der wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass Armut gesellschaftlich gemacht ist“,
betont Schoneville.
Hass und Missgunst
Trotzdem muss noch sehr viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Die Reaktionen auf Tweets mit dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen sind oft voller Hass. Teils wird unterstellt, nur Mitleid erregen und sich über Wishlists bereichern zu wollen. Oder: Bürgergeld Bedürftigen, die faire Regelsätze fordern, wird vorgeworfen, sich auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung in die soziale Hängematte zu legen.
Umso lobenswerter ist, dass Betroffene sich davon nicht abhalten lassen und weiter auf die Probleme aufmerksam machen.
„Es erfordert unbeschreibliche mentale Stärke. Respekt für alle, die es aushalten und weiter machen!“,
betont die OneWorryLess Foundation.
Blockaden in den Köpfen lösen
Besonders ärgerlich: Union und AfD schüren die Vorurteile weiter und sorgen mit Aufrufen zu Zwangsarbeit oder der Kürzung des Bürgergelds dafür, dass weiter von oben nach unten getreten wird und Arme auf noch Ärmere losgehen. Es braucht ein Umdenken.
„Wir müssen die Blockaden in den Köpfen der Menschen lösen“,
mahnt Prof. Dr. Christoph Butterwegge. Er spricht bei der Aktion #IchbinArmutsbetroffen von einem „historischen Meilenstein“.
Minimales politisches Echo
Ein politisches Echo auf die Aktion ist bislang weitgehend ausgeblieben. Lediglich Janine Wissler von „Die Linke“ hat es gewagt und im Deutschen Bundestag einige der Tweets vorgelesen. Ihr Wunsch „Hören wir diesen Menschen zu“, ist bis jetzt noch nicht in Erfüllung gegangen.
Das Thema betrifft alle
Davon lassen sich Betroffene aber nicht beirren. Sie schauen nicht mehr verschämt auf den Boden, sondern nach vorne, und zwar als Gemeinschaft. Sie haben klare Vorstellungen davon, was sich ändern müsste und machen diese Forderungen auch unmissverständlich deutlich, trotz aller Widerstände und der steten Hasstiraden.
„Wir wollen uns nicht länger für strukturelle Probleme schämen müssen“,
sagt Initiatorin Anni. Die Motivation dazu kommt aus einer simplen Erkenntnis, die „Shatrinja“ in einem Tweet auf den Punkt bringt:
„Da Armut jeden Menschen treffen kann, betrifft sie uns alle.“
Titelbild: Anni (@Finkulasa)/ twitter 31.05.2022