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#IchBinArmutsbetroffen: Das Leben am Rand der Gesellschaft

Frau wird von zwei anderen ausgelacht mit Fingerzeig

Armut hat viele Gesichter. Das beweist der Hashtag #ichBinArmutsbetroffen auf Twitter. Mutige Menschen, die sich sonst nicht trauen würden, über ihre Armut, die Gründe und Folgen zu sprechen, öffnen dort ihr Herz. Viele sind froh, sich mit den Sorgen nicht mehr alleine fühlen zu müssen. Dabei geht es nicht nur um das Thema Geld, wenngleich es wichtig ist. Es geht auch um Respekt. Mit inzwischen 59.200 Tweets in zehn Tagen dürfte klar sein: Armut ist weit mehr als nur eine „Randerscheinung“. Sie hat die Mitte der Gesellschaft längst erreicht.

Armut kommt unerwartet

Wenn 1,40 Euro für die Kugel Schoko nicht drin sind und der Sohn zusehen muss, wie seine Freunde Eis schlecken. Oder die 70-Jährige frühmorgens verschämt Flaschen sammelt, um auch Ende des Monats noch Brot im Schrank zu haben. Das sind Schicksale, die man sich nicht aussucht. Jeden kann es treffen, völlig unerwartet. Dann ist Hartz IV plötzlich nicht mehr gleichbedeutend mit faul, sondern harter Alltag.

Twitter-Initiative

Darauf macht die Twitter-Initiative der OneWorryLess Foundation unter #EineSorgeWeniger aufmerksam. Sie hat bereits Mitte 2020 dazu aufgerufen, damals noch unter dem Hashtag #EineSorgeWeniger zwei Aspekte oder Beispiele von Armut zu nennen. Aktuell heißt es:

„Statt davon auszugehen, dass wir eines Tages aufsteigen könnten, sollten wir doch sicherstellen, dass auch bei Schicksalsschlägen, die jeden von uns treffen können, ein würdevolles Leben möglich ist!“

Corona hat gezeigt: So schnell wird man arm

Wie schnell man arm werde kann, haben in den vergangenen zwei Jahren viele am eigenen Leib erfahren müssen. Sie verloren durch die Pandemie oder Probleme mit Long-Covid den Job. Dinge, die vorher selbstverständlich waren, wie die neue Jacke, werden binnen weniger Monate zum Luxusobjekt. Dann kann man nicht mehr mit den Nachbarn mithalten und zweimal jährlich in den Urlaub fahren.

Andrea schreibt zum Beispiel als Antwort auf einen Tweet von @narabenball:

„20€ sind eine große Summe. Das auszugleichen ist schwer, ich weiß ja jetzt schon nicht mehr wo ich einsparen kann.“

Hartz IV bedürftig durch Schicksalsschläge

Bei vielen, die auf Hartz IV angewiesen sind, waren es ähnliche Schicksalsschläge, die in die Grundsicherung geführt haben. Krankheit, ob körperlich oder seelisch, die Pleite des Arbeitgebers, der Tod des Partners: All das kann die Lebensplanung über den Haufen werfen.

Die Mär von den faulen Armen

Traurig, aber wahr: Irgendwann sieht man sich dann mit dem Vorwurf konfrontiert, einfach nur faul zu sein. Dabei wollen die meisten arbeiten und eben nicht von anderen oder vom Staat abhängig sein. Das belegen Studien, wonach Hartz IV Bedürftige genauso fleißig und motiviert sind wie Berufstätige. Sie haben nur kaum noch Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Wer mit 50 den Job verliert, fällt gegen die jüngere „Konkurrenz“ schlichtweg durchs Raster. Und auch wer sich mit 30 in den Burn-out malocht hat, wird es aufgrund der Psyche schwer haben, wieder Fuß zu fassen.

Kinderarmut und Altersarmut

Dann wären da noch Kinder und Rentner. Kinder werden in die Armut hineingeboren und können von sich aus gar nichts daran ändern. Sie leiden still und müssen gegen Windmühlen kämpfen, um sich selbst eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Rentner haben oft ihr Leben lang gearbeitet, um dann doch noch auf Hartz IV Leistungen angewiesen zu sein. Stichwort: Grundsicherung im Alter. Auch sie leiden darunter.

Deshalb es umso erfreulicher, wenn zwischen den einzelnen Schicksalsschlägen auch positive Beispiele genannt werden. Ein Freund hat Franziska 100 Euro für die Kinder gegeben, für das Schwimmbad. Gleichwohl hat sie sich geschämt.

Armut macht krank

Was viele übersehen und bei Twitter jetzt deutlich wird: Armut macht krank. Landläufig wird arm zu sein mit dem Nicht-Vorhandensein von Geld gleichgesetzt. Doch es ist weit mehr. Ein Blick auf die vielen Nachrichten zum Hashtag #IchBinArmutsbetroffen zeigt: Armut grenzt aus. Armut macht einsam. Armut heißt Scham. Armut sind ständige Sorgen.

Alysanne ist ein solches Beispiel. Sie habe fast alle Freunde verloren, da Teilhabe nicht möglich sei. Bestätigt wird sie darin unter anderem anderen von „Ostsee Schwalbe“ und Nilly

https://twitter.com/cyar_ika/status/1527937574437888003

Armut schadet der Seele

In der Schule ausgelacht zu werden, weil die Turnschuhe nur zwei und nicht drei Streifen haben. Das Tuscheln der Nachbarn, weil man zur Tafel geht. Aus Scham die Geburtstagseinladung auszuschlagen, weil man kein Geschenk kaufen kann. Den BH über Jahre hinweg immer wieder zu flicken, weil ein neuer zu teuer ist, oder tagein, tagaus die selbe Hose zu tragen.

Das macht etwas mit den Menschen. Die Seele leidet. Gespiegelt wird dieses Leid oft durch Krankheiten. Armut macht vor allem psychisch krank. Hinzu kommen oft körperliche Symptome.

Niemand ist freiwillig arm

Möchte man das? Ganz gewiss nicht. Und es wird auch nicht leichter, wenn Hartz IV Dokus das Bild vom arbeitsscheuen Faulenzer pushen. Sie liefern all jenen Futter, die in der Grundsicherung eine bequeme Hängematte sehen und am Stammtisch prahlen, immer wieder Arbeit zu finden.

Ein typischer Weg in die Armut

Doch so einfach ist es nicht. Wer den Job verliert, kommt anfangs mit dem Arbeitslosengeld I vielleicht noch ganz gut über die Runden. Wenn dann alle Bemühungen um eine neue Arbeit scheitern und das Selbstbewusstsein ohnehin schon einen Knacks hat, kommt der nächste Schlag mit Hartz IV.

Wenn die Wohnung zu groß ist

Dann fangen die Probleme erst an. Die liebgewonnene Wohnung ist laut Jobcenter unangemessen. Entweder man zahlt selbst einen Teil der Miete oder muss weg aus dem gewohnten Umfeld. Kinder verlieren ihre Freunde. Man selbst sorgt sich, ob man überhaupt eine bezahlbare Wohnung findet.

Wohnkostenlücke: Bedürftige zahlen bei Miete drauf

Stress nimmt zu

Dazu der Stress, über die Runden zu kommen, die Besuche beim Amt. Das zermürbt und raubt Kraft, die nicht in die Arbeitssuche fließt. Man resigniert. Und wenn dann mit der neuen gebrauchten Hose aus dem Sozialkaufhaus kommt und den mitleidigen Blick ehemaliger Bekannter spürt, weiß man: Ich bin arm.

Nicht alle über einen Kamm scheren

Von daher ist es überheblich, den Stab über jene zu brechen, die auf Hartz IV oder andere Sozialleistungen angewiesen sind. Vielmehr gilt: „Gehe hundert Schritte in den Schuhen eines anderen, wenn du ihn verstehen willst.“ Vorher sollte man sich kein Urteil erlauben.

Denn viele arbeiten und müssen trotzdem Hartz IV beantragen. Sie sind nicht faul, sondern Opfer des Systems. Zudem gibt es immer mehr Rentner, die ohne Grundsicherung nicht weiterkommen. Sie haben das Land aufgebaut. Und doch zeigt man mit dem Finger auf sie. Dabei hat niemand es verdient, dass man über ihn lacht, ihn beleidigt oder ausgrenzt. Das muss nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Politik endlich verinnerlichen.

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Bild: Antonio Guillem/ shutterstock.com