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Ist Hartz IV eine Wohlstandslücke?

Rentnerin zählt Münzgeld

Die Zähne zusammenbeißen: Das rät der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck mit Blick auf den drohenden schweren Winter und zieht dazu ein über 70 Jahre altes Armutsbild heran. Im Gespräch mit Markus Lanz über den Krieg in der Ukraine betont er, dass viele noch wüssten, was wirkliche Armut sei – und meint damit die Trümmerfrauen. Doch was ist mit den 14 Millionen Menschen, die aktuell als arm gelten, etwa all jene, die auf Hartz IV angewiesen sind?

Schönste Träume nicht verwirklichen

Konkret sagte Joachim Gauck:

„Eine Wohlstandslücke kann man überleben. In diesem Land leben Menschen, die wissen, was wirkliche Armut ist, die Trümmer erlebt haben. Wir können auch mal die Zähne zusammenbeißen, in einer Phase, wo vielleicht die schönsten Träume nicht verwirklicht werden können oder man nur einmal statt zweimal im Jahr in den Urlaub fährt.“

Unanständiger Vergleich

Bei dieser Aussage sträuben sich der ehemaligen Jobcenter-Mitarbeiterin und heutigen Hartz IV Kritikerin Inge Hannemann die Nackenhaare. Sie hält es für „unanständig“, die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die aktuelle Lage auszuspielen. Auf Twitter erklärt sie: „Damals wusste man, es geht wieder aufwärts.“

Damals reichte ein Verdiener in der Familie

Man habe sich keine Sorgen über den Verlust der Wohnung machen müssen. Es habe Arbeit gegeben und es reichte ein Verdiener in der Familie. Davon sei man heute weit entfernt. Von den 14 Millionen Armen in Deutschland würden viele nicht einmal von Urlaub reden.

Sorge vor der Zukunft

Dabei bezieht sich Inge Hannemann nicht nur auf Menschen, die ausschließlich auf Hartz IV angewiesen sind. Sie verweist konkret auf Rentner. Auf jene, die zu stolz sind, Hilfe zu beantragen, und all je jene, die arbeiten und trotzdem nicht wüssten, wie sie die nächste Stromrechnung bezahlen sollen.

Gauck übersieht die aktuelle Armut

Es sei daher zynisch, den Menschen zu raten, sie mögen die Zähne zusammenbeißen. Wer so etwas sage, übersehe die aktuelle Armut. Es gehe um Menschen, „die ihre Träume schon lange begraben haben“, sagt Inge Hannemann und erhält dafür viel Zustimmung auf Twitter.

Perspektivlosigkeit

Denn eines hat Joachim Gauck offenbar übersehen: Es geht um die Perspektive. Zweifelsohne herrschte nach dem Zweiten Weltkrieg Armut. Niemand widerspricht, dass es harte Jahre des Aufbaus und Hunger und Entbehrung in vielen Familien an der Tagesordnung waren. Doch es gab ein Licht am Ende des Tunnels.

Angst vor dem tiefen Fall

Wer heute armutsbetroffen ist, erkennt vielleicht noch ein kleines Funkeln. Doch alles in allem ist der Blick nach vorne nicht mehr zuversichtlich, sondern von Angst geprägt. Der Angst, noch tiefer zu fallen. Das bestätigen die Tafeln, die inzwischen zwei Millionen Menschen unterstützen, die sonst vor einem komplett leeren Kühlschrank ständen.

Weit entfernt vom Wohlstand

Eine Wohlstandlücke kann man überleben. Da hat Joachim Gauck vollkommen recht. Das setzt allerdings voraus, dass es sich tatsächlich um eine Lücke im Wohlstand handelt. Doch Wohlstand ist etwas, von dem 14 Millionen Menschen so weit entfernt sind, wie schon lange nicht mehr. Sie sind schlichtweg arm.

Titelbild: Matej Kastelic / shutterstock.com