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Jeder zweite Bürgergeld-Empfänger fürchtet Wohnungsverlust

Verzweifelte Frau sitzt im Sessel, neben ihr gepackte Umzugskartons

Wohnarmut ist in Deutschland ein Phänomen, das immer mehr um sich greift. Steigende Mieten sorgen dafür, dass Menschen weit mehr für das Dach über dem Kopf ausgeben, als ihr Budget hergibt. Kein Wunder, dass viele die Angst beschleicht, die Wohnung zu verlieren. Bei Bürgergeld Bedürftigen ist diese Sorge weitaus größer als im Rest der Bevölkerung. Jeder zweite Betroffene befürchtet, auf der Straße zu landen. Die Karenzzeit Wohnen hat daran nichts geändert.

Die Karenzzeit

Eingeführt wurde die Karenzzeit mit dem Bürgergeld. Sie gilt für die Kaltmiete und endet nach einem Jahr. Während dieser Zeit verzichtet das Jobcenter darauf, die Angemessenheit der Unterkunft zu prüfen. Die böse Überraschung kommt dann meist nach zwölf Monaten. Denn für eine Wohnung, die nicht angemessen ist, übernimmt das Jobcenter nicht mehr die vollen Kosten. Stattdessen wird ein Kostensenkungsverfahren eingeleitet. Dann muss man binnen sechs Monaten eine günstigere Wohnung finden, mit dem Vermieter verhandeln oder die Differenz aus eigener Tasche zahlen.

Die Nöte der Menschen

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat sich im Rahmen einer Studie zum Thema „Arbeiten und Leben in Deutschland“ näher mit der Karenzzeit und den Nöten von Bürgergeld Bedürftigen befasst. Über die Grundsicherung sei Wohnungslosigkeit zwar prinzipiell abgesichert. Angesichts der Mietenexplosion werde es jedoch immer schwerer, eine angemessene Wohnung zu finden. Daraus resultiert die Angst vor Wohnungsverlust. 2024 gaben immerhin 23 Prozent der Bundesbürger an, diesbezüglich große oder etwas Sorgen zu haben. Bei Bürgergeld-Empfängern sind es 51 Prozent – damit mehr als jeder Zweite. Und bei Betroffenen, denen eine Kürzung der Unterkunftskosten droht, 70 Prozent.

Kostensenkungsverfahren

Auf die Situation, wenn das Jobcenter die Kaltmiete nicht mehr in voller Höhe zahlt, reagieren Bürgergeld Bedürftige unterschiedlich. Sechs Prozent vermieten unter, acht Prozent beschreiten den Rechtsweg, elf Prozent schaffen es, eine Mietsenkung zu vereinbaren, 13 Prozent suchen eine günstigere Wohnung und 22 Prozent überzeugen das Jobcenter, die Miete weiterhin zu tragen. Die Mehrheit (45 Prozent) beißt jedoch in den sauren Apfel und trägt die Differenz zwischen dem Betrag, den das Jobcenter für angemessen hält, und der tatsächlichen Miete über den Regelsatz oder eventuell noch vorhandenes Schonvermögen.

Wohnkostenlücke: 320.000 Betroffene

Wie viele Bürgergeld Haushalte von einer solchen Wohnkostenlücke betroffen sind, erfragt die Partei „Die Linke“ Jahr für Jahr. Das Ergebnis: Laut aktuellen Zahlen müssen 320.000 Haushalte im Bürgergeldbezug tief in die Tasche greifen, um die Wohnung nicht zu verlieren. Bei Singles beträgt der „Eigenanteil“ an der Kaltmiete im Schnitt 111 Euro (fast 20 Prozent des Regelsatzes von 563 Euro). Familien mit Kindern investieren monatlich durchschnittlich 124 Euro, wobei es je nach Stadt und Region auch bis zu 215 Euro (München) sein können.

Bürgergeld Bedürftige bei den Wohnkosten klar benachteiligt

Wohnsituation ist Beratungsthema

Dafür sind aus Sicht der Sozialverbände „unrealistische Mietgrenzen“ verantwortlich. Das ist den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern durchaus bewusst. Denn im Rahmen der Beratungsgespräche spielen die Wohnung und die Wohnsituation eine nicht unerhebliche Rolle. Die Wohnsituation im Allgemeinen wird in 39 Prozent der Fälle sehr häufig oder immer thematisiert (33 Prozent häufig). Die Kosten der Unterkunft immerhin in 27 Prozent der Fälle (26 Prozent häufig).

Zweifel an der Schonfrist

Diese Sorgen haben sich herumgesprochen und sollten mit der Karenzzeit aufgefangen werden. Wer den Job verliert, soll mit dem Thema Miete nicht noch mehr Last auf den Rücken geschnallt bekommen, sondern sich auf die Arbeitssuche oder Qualifikation konzentrieren können. Ob die Karenzzeit diesen Zweck tatsächlich erfüllt, daran haben die Mitarbeitenden in den Jobcentern allerdings Zweifel. Dass soziale Härten vermieden werden, gestehen gerade einmal 37 Prozent ein. Bei Jobsuche, Qualifizierung, Widersprüchen und Prüfaufwand wird der Nutzen der Schonfrist jedoch eher gering eingeschätzt.

Forderung nach Reform

Das deckt sich mit den Forderungen des Bundesrechnungshofes, die Karenzzeit zu reformieren. Die Schonfrist wiegt Betroffene in falscher Sicherheit. Der Hammer folgt nach zwölf Monaten, wenn sich das Jobcenter genauer mit der Miete befasst und plötzlich ein Kostensenkungsverfahren im Raum steht. Würde die Angemessenheit direkt geprüft, wüssten Bürgergeld Bedürftige, woran sie sind und worauf sie sich einstellen müssen.

Regierungspläne schüren Ängste

Diese Überlegungen werden jedoch obsolet, wenn die Pläne von Union und SPD umgesetzt werden, die Karenzzeit komplett zu streichen. Wer dann den Job verliert und nicht schnell genug eine neue Arbeit findet, muss sich schlimmstenfalls sofort um eine neue Wohnung bemühen. Gerade in Ballungszentren gleicht die Suche nach einem bezahlbaren Dach über dem Kopf jedoch der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. In Kombination mit der aktuellen wirtschaftlichen Lage dürfte die Angst vor Obdach- oder Wohnungslosigkeit dann rapide in die Höhe schnellen.

Titelbild: vk_st / shutterstock