Obwohl eine Berliner Familie fälschlicherweise 3.000 Euro Bürgergeld zu viel vom Jobcenter erhalten hat, darf sie das Geld behalten – dies hat jüngst das Landessozialgericht (LSG) Berlin‑Brandenburg entschieden. Die Rückforderung des Jobcenters scheitert, weil der Rechenfehler allein auf Seiten des Amtes lag und der Familie kein grob fahrlässiges Fehlverhalten nachgewiesen werden konnte. Für viele Bürgergeld‑Bezieher klingt das wie ein kleiner Sieg gegen die oft übermächtige Verwaltung – und genau das ist es auch. Ebenso zeigt dieser Fall, dass es sich lohnt, Entscheidungen des Jobcenters nicht einfach hinzunehmen und insbesondere eine Rückforderung – Jobcenter verschickt einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid – genau zu überprüfen oder bei Bedarf anwaltlich checken zu lassen.
Bürgergeld Rückforderung gekippt – Jobcenter scheitert vor Gericht
Jobcenter rechnet falsch
Seit 2020 steht die Familie im Bürgergeld Bezug. Im Februar 2021 nahm der Familienvater eine Verkäuferstelle an. Sein Arbeitsvertrag wies als Vergütung für die Tätigkeit 1.600 Euro netto aus. Im Leistungsbescheid tauchte dieselbe Summe jedoch als Brutto auf, wodurch das Jobcenter nur 1.276,40 Euro anrechenbares Nettoeinkommen berücksichtigte. Über zehn Monate hinweg flossen deshalb Leistungen, die sich auf gut 3.000 Euro zu viel summierten. Erst als die Lohnabrechnungen mit 2.001,75 Euro Brutto-Gehalt an das Jobcenter übermittelt wurden, bemerkte der Leistungsträger den Fehler und verlangte das Geld zurück.
LSG hebt Sozialgericht Entscheidung auf
Das Sozialgericht Berlin stellte sich zunächst auf die Seite des Jobcenters. In seiner Entscheidung vom 6. September 2023 (Az. S 136 AS 3183/22) argumentierte es, der Rechenfehler sei im Bescheid erkennbar gewesen und hätte den Leistungsberechtigten auffallen müssen. Wer einen Bescheid erhält, müsse offensichtliche Fehler erkennen und anzeigen. Die Familie legte gegen dieses Urteil Berufung ein – mit Erfolg. Der 3. Senat des LSG hob die Entscheidung auf und stellte klar, dass Bürgergeld‑Bescheide aufgrund ihrer Komplexität Laien leicht überfordern. Allein deshalb könne man nicht automatisch von grober Fahrlässigkeit sprechen, wenn jemand einen falschen Brutto‑/Netto‑Ansatz übersieht. (Az.: L 3 AS 772/23 vom 03.04.2025)
Vertrauen schützt vor Rückzahlung
Das Gericht stützte sich auf § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X (Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes). Rückforderungen sind ausgeschlossen, wenn die Betroffenen auf die Rechtmäßigkeit des Bescheids vertrauen durften. Entscheidend sei das subjektive Einsichts‑ und Urteilsvermögen. Die Ehefrau, die die Post bearbeitete, hatte glaubhaft erklärt, mit den Begriffen „brutto“ und „netto“ unsicher zu sein. Bei so vielen Rechen‑ und Rechtsdetails durfte sie davon ausgehen, dass die Behörde sauber gearbeitet hatte. Für das LSG war daher keine grobe Fahrlässigkeit erkennbar.
Was das Urteil noch klarstellt
Besonders interessant ist die ausführliche Begründung in der schriftlichen Urteilsfassung. Das Gericht stellte zunächst klar, dass hier § 45 SGB X anwendbar sei – also die Regelung zur Rücknahme anfänglich rechtswidriger Bescheide. Das Jobcenter hatte den Fehler bereits bei der ursprünglichen Berechnung gemacht, nicht erst später.
Außerdem betonte der Senat, dass Bürgergeld-Empfänger zwar grundsätzlich verpflichtet sind, Bescheide zu lesen und auf Plausibilität zu prüfen. Diese Prüfung beziehe sich aber vor allem auf einfache, klar erkennbare Sachverhalte – etwa die Zahl der Haushaltsmitglieder oder die Miete. Bei mehrstufigen Berechnungen wie Brutto-/Netto-Unterscheidungen, Einkommensfreibeträgen oder Abzügen könne man von juristischen Laien keine vertieften Kontrollrechnungen erwarten. Wer hier auf die Korrektheit der behördlichen Berechnung vertraut, handelt nicht automatisch grob fahrlässig.
Eine wichtige Rolle spielte auch die Anhörung der Klägerin. Sie hatte nachvollziehbar geschildert, dass sie Schwierigkeiten mit Zahlen und Begriffen habe. Obwohl sie die Behördenschreiben eigenständig bearbeitet hatte, sprach für sie kein überdurchschnittliches Rechenverständnis. Genau deshalb durfte sie davon ausgehen, dass das Jobcenter die Angaben aus dem Arbeitsvertrag korrekt eingeordnet hatte.
Auch das Argument, sie hätte den Fehler an der falschen Spalte im Bescheid erkennen müssen, überzeugte die Richter des LSG nicht. Selbst wenn sie die Zeile mit der 1.600 Euro-Summe entdeckt hätte, hätte sich der Fehler nicht sofort aufgedrängt. Der Betrag stimmte ja – nur der Kontext war falsch. Für das Gericht war dies kein Fall von „ins Auge springendem Irrtum“, sondern eine klassische Rechenpanne, die allein der Behörde anzulasten sei.
Bedeutung für Bürgergeld-Empfänger
Das Urteil sendet ein klares Signal: Jobcenter dürfen Rechen‑ und Prüfpflichten nicht blind auf Bürgergeld Empfänger abwälzen. Wer einem fehlerhaften, aber komplizierten Bescheid vertraut, muss nicht fürchten, jeder Ziffer hinterherzurechnen – solange kein grob fahrlässiges Wegsehen nachweisbar ist. Beratungs‑ und Sozialberatungsstellen können sich künftig auf diese Rechtsprechung berufen, wenn Rückforderungen allein auf behördlichen Fehlern fußen.
Keine Mithaftung bei Bürgergeld Rückforderung vom Jobcenter
Nicht rechtskräftig – aber klare Linie des Gerichts
Das Urteil des Landessozialgerichts ist noch nicht rechtskräftig. Dem Jobcenter bleibt die Möglichkeit, binnen eines Monats Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundessozialgericht einzulegen. Erst wenn das BSG dieser Beschwerde stattgibt, könnte eine Revision durchgeführt werden. Eine automatische oder pauschale Revisionszulassung hat das LSG hingegen nicht erteilt – und das aus gutem Grund:
Die Richter sahen in ihrer Entscheidung keine grundsätzliche Rechtsfrage, die über den Einzelfall hinaus höchstrichterlicher Klärung bedürfte. Vielmehr stützten sie sich auf etablierte Maßstäbe des Sozialrechts – insbesondere zur Frage, wann grobe Fahrlässigkeit vorliegt und wann nicht.
Damit sendet das Gericht ein deutliches Signal: Die Einschätzung zur Schutzwürdigkeit von Bürgergeldempfängern ist keine Ausnahmelösung, sondern Ausdruck einer konsequenten Anwendung geltenden Rechts. Solange das BSG keine Revision zulässt, gilt für Betroffene: Wer einem komplexen Bescheid vertraut, muss nicht für Rechenfehler der Verwaltung geradestehen.
Titelbild: nepool / shutterstock