369.000 Leistungsminderungen, besser bekannt als Sanktionen, wurden im vergangenen Jahr gegen Bürgergeld Bedürftige verhängt. Das sind 63 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Zahl mag Kritiker jubeln lassen. Blickt man jedoch tiefer in das Datenwerk, wird mit der Erhebung der Bundesagentur für Arbeit (BA) jede Debatte über faule Leistungsempfänger im Keim erstickt. Denn nicht einmal ein Prozent derer, die Bürgergeld erhalten, wurde bestraft. Das sollte auch der künftigen Regierung zu denken geben, die Sanktionen als Mittel der Wahl feiert.
Hauptgrund: Meldeversäumnisse
Betroffen von den Leistungsminderungen waren laut Informationen der BA 185.600 erwerbsfähige Leistungsberechtigte, im Jahresschnitt 27.400. Das entspricht einem Plus von 44,8 Prozent. Ganz konkret: „Ende Dezember 2024 waren nur 0,8 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigen von mindestens einer Leistungsminderung betroffen.“ Hauptgrund für die Sanktionen gegen Bürgergeld Bedürftige waren Meldeversäumnisse. Es wurden also Termine nicht wahrgenommen. Das trifft auf 86,3 Prozent und damit 318.700 Minderungen zu.
Tschüss Bürgergeld – Rückkehr zur Härte bei der Grundsicherung
Kaum Arbeitsverweigerung
Verschwindend gering ist hingegen die Zahl derjenigen, die sich weigerten, eine Arbeit, Ausbildung oder Eingliederungsmaßnahme aufzunehmen oder fortzuführen. Im gesamten vorigen Jahr summierten sich hier lediglich 23.400 Fälle. Wer 2024 mit einer Sanktion konfrontiert wurde, erhielt im Schnitt 7,8 Prozent bzw. 62 Euro weniger Bürgergeld. Diesbezüglich erklärt die BA, dass auch „eine vollständige Minderung der Regelleistung möglich sei“.
Ziel: 100-Prozent-Sanktionen
Genau darauf zielt die angehende Regierung mit ihrem Koalitionsvertrag ab. Darin heißt es ab Zeile 515: „Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.“ Generell sollen Sanktionen schneller, einfacher und unbürokratischer durchgesetzt werden können. Damit bekommen die Mitarbeiter der Jobcenter bei der Grundsicherung quasi freie Hand und können unliebsames Klientel nach Gutdünken bestrafen.
Was sagt das Bundesverfassungsgericht?
Ob sich die Idee der Totalsanktionierung jedoch mit den Vorstellungen des Bundesverfassungsgerichts deckt, ist eher zweifelhaft. Schon 2019 musste sich das Gericht (Aktenzeichen 1 BvL 7/16) mit dem Thema Sanktionen befassen. Einer der Leitsätze lautete, der Gesetzgeber könne sich dafür entscheiden, „verhältnismäßige Pflichten mit wiederum verhältnismäßigen Sanktionen durchzusetzen“. Kurzum: Die Richter machten unmissverständlich deutlich, dass ein Entzug der Leistungen „strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit“ unterliegt.
Zweifel an Eignung des Leistungsentzugs
In der Urteilsbegründung äußerte das Bundesverfassungsgericht zudem Bedenken am System der Sanktionen, insbesondere an der Eignung, Menschen in Arbeit zu bringen. Damals bezog man sich zwar „nur“ auf 60-prozentige Kürzungen, machte aber deutlich, dass es sehr zweifelhaft sei, „dass einer wiederholten Pflichtverletzung nicht durch mildere Mittel hinreichend effektiv entgegengewirkt werden könnte“. Daher auch die klare Aussage, dass Kürzungen, die 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs übersteigen, verfassungswidrig seien.
Außergewöhnliche Härten
Dass sich Union und SPD dennoch für eine Totalsanktionen bei der Grundsicherung aussprechen, ist deshalb schwer nachvollziehbar. Vor allem, weil man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beachten möchte. Die einzige Grundlage für eine mögliche Kürzung um 100 Prozent findet sich in Randnummer 209 des Urteils. Demnach ist ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen, wenn zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund verweigert wird, obwohl die Möglichkeit bestand, „etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen“. Aber: Das Gericht betonte auch, dass ein pauschaler Wegfall der Leistungen nicht statthaft ist. Schon gar nicht, wenn keine Ausnahmen für außergewöhnliche Härten gelten. Ob sich das mit schneller, einfacher und unbürokratischer deckt – eher nicht.
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