12,5 Millionen Menschen waren in Deutschland Ende 2021 von Ernährungsarmut betroffen. Aktuell dürften es angesichts der hohen Lebensmittelkosten weit mehr Betroffene sein – darunter alle Hartz IV Bedürftigen. Denn der Regelsatz deckt aus Sicht des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) nicht die Kosten einer gesunden Ernährung. Dem widerspricht das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) und ohrfeigt damit alle armen Haushalte als unfähig, richtig einzukaufen.
Foodwatch kritisiert Hartz IV
Kritik daran kommt von eher ungewohnter Seite: foodwatch. Der gemeinnützige Verein, der sich unter anderem mit der Qualität von Lebensmitteln befasst, verweist auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion. Sie möchte wissen, ob beim künftigen Bürgergeld bedacht werde, dass sich „ohne weitere Unterstützungsressourcen“ keine gesundheitsfördernde Ernährung realisieren lasse.
Verschwenden Hartz IV Haushalte Lebensmittel?
Wissenschaftlicher Beirat: Regelsatz ist zu niedrig
Denn zu diesem Schluss kommt das wissenschaftliche Beratergremium des Ministeriums in einem Gutachten aus dem Jahr 2020. Seither ist immer wieder – auch von anderer Seite – betont worden, dass Hartz IV oder genauer, die Höhe des Regelbedarfs für Lebensmittel und Getränke einer gesunden Ernährung entgegenstehe.
Bundesernährungsministeriums widerspricht
Statt der Wissenschaft Glauben zu schenken und zumindest darüber nachzudenken, kanzelt das Bundesernährungsministerium jede Kritik am Hartz IV Regelsatz ab. In der Antwort auf die Kleine Anfrage vom 6. Oktober 2022 heißt es, dass gesund erhaltende Ernährung
„bei informiertem, preisbewusstem Einkauf eine aus dem Regelbedarf“
heraus möglich sei. Schließlich handle es sich um eine
„individuelle Entscheidung, in welcher Art, Form und in welchem Umfang der Bedarf an Ernährung gedeckt wird“.
Expertenmeinung wird ignoriert
Oder anders ausgedrückt: Das BMEL ignoriert die Empfehlung des eigenen wissenschaftlichen Beirats. Wozu hat man dann einen solchen Beirat? Den eigenen Experten zu widersprechen, macht jedenfalls keinen guten Eindruck. Schon gar, wenn man erklärt, es handle sich bei dem Gutachten und der Einschätzung zum Regelsatz um eine Auffassung, die man nicht teile. Kritik scheinen die Damen und Herren im Ministerium nicht zu vertragen.
Mangelernährung – Hartz IV macht krank
Beschämende Situation
Dafür finden foodwatch und auch der für das Gutachten zuständige Experte, Professor Dr. Hans-Konrad Biesalski, klare Worte. Der Wissenschaftler wird von foodwatch zitiert:
„Die Bundesregierung ist offensichtlich nicht in der Lage, den Text des wissenschaftlichen Beirates zu lesen und zu interpretieren – weil sie offenbar nicht willens ist, an dieser für ein reiches Land wie Deutschland beschämenden Situation etwas zu ändern.“
Ohrfeige für Betroffene
Foodwatch selbst nennt die Aussagen des Ministeriums eine Ohrfeige für Millionen armutsbetroffener Menschen. Luise Molling von foodwatch bringt es auf den Punkt: Hartz IV Bedürftige und viele andere Haushalte können den Gürtel nicht noch enger schnallen. Die Antwort des Ministeriums sei realitätsfern und
„ignoriert die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Mangelernährung und deren katastrophalen Folgen, insbesondere bei Kindern“.
Regelsatz muss angepasst werden
Die Forderung von foodwatch lautet daher: Die Regierung soll die Mindestkosten für eine gesunde Ernährung ermitteln und diesen Wert bei den Regelsätzen für das Bürgergeld berücksichtigen. Der Satz steige zum kommenden Jahr zwar um knapp 12 Prozent. Das reiche angesichts einer Teuerung bei Lebensmitteln von etwa 16 Prozent aber nicht aus. Zusätzlich sei ein kostenloses Mittagessen in Schulen und Kindergärten nötig.
Hartz 4 reicht kaum für Lebensmittel – Verband fordert Zuschuss
Das Gutachten: https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Ministerium/Beiraete/agrarpolitik/wbae-gutachten-nachhaltige-ernaehrung.html
Die Antwort auf die Kleine Anfrage: https://www.foodwatch.org/fileadmin/-DE/Themen/Ernaehrungsarmut/213-Anwort-KA_Ernaehrungsarmut_20_3633.pdf
Update vom 21.10.2022: Nachdem wir über diesen Missstand in den Sozialen Medien berichtet haben, hat sich das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft zu unserem Beitrag über Twitter geäußert:
Über den vom BMEL genannten Inflations-Mechanismus haben wir auch bereits berichtet unter Auch das Bürgergeld wird nur in kleinen Schritten steigen. Sollte sich an diesem „Mechanismus“ nichts mehr ändern, sind die Steigerungen kaum der Rede wert.
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